Jahrbuch Musik 1943, "Musikpflege in der Wehrmacht" (von Generalmajor Paul Winter)          

Weil die Musik, die elementarste der Künste, eine geheimnisvolle Macht über das menschliche Herz in sich birgt, hat man zu allen Zeiten sich bemüht, ihre stärkende, beflügelnde Kraft der Seele des Kriegers teilhaftig werden zu lassen. 

 

Unsere Kriegswehrnacht, in der die Waffenträger der Nation vereinigt stehen, kämpft heute um Dasein, Lebensraum und Zukunft des deutschen Volkes und Europas. Sie ist ein "Volk in Waffen“, ist Verkörperung aller leiblichen und seelischen Kräfte dieses Volkes, seiner Gläubigkeit und Sehnsüchte, seiner Freuden und Sorgen. Sie ist wie ein Sammelbecken, in das alle Einzelleben münden, um als mächtiger, gelenkter Strom kriegerischer Kraft daraus loszubrechen, ist wie ein Schmelztiegel, in dem alle Seelen zusammengeglüht werden zu Schwert und Schild, ist wie die ragende Eiche, die ihre Wurzeln und Äste weitverzweigt ins Erdreich und in die Lüfte ausstreckt, um alle lebendigen Säfte und Kräfte einzusaugen, die - in Wind und Wetter gehärtet - sich ihren Raum an der Sonne erstreitet. 

 

Es gehört zur Eigenart des deutschen Menschen: gerade in Zeiten der Not regt sich in ihm mächtig die Sehnsucht nach dem Kraftquell des Musischen. Zu solcher Zeit wächst ihm aus dem wundersam vielgestaltigen Kulturboden seines Volkstums alles entgegen, dessen er bedarf. In diesem Bedürfnis spiegelt die Kriegswehrmacht heute das Fühlen des ganzen Volkes wieder. Dabei ist weniger von Bedeutung, was dem Einzelnen als Wunschbild vorschwebt, vielmehr die Tatsache, daß die Gesamtheit dieses Bedürfnis nach dem Höheren, dem Schönen, nach der Kunst - vornehmlich der in Rhythmus und Melodie klingenden - im Herzen trägt. 

 

Diesem Bedürfnis der Gesamtheit trachtet die Musikpflege in der Wehrmacht ebenso gerecht zu werden; wie den militärischen Erfordernissen. Allerdings erweist sich auch hier der Krieg als ein unerbittlicher Richter über die letzten Werte menschlichen Seins und Tuns. 

 

In der steten Bereitschaft zur Hingabe seines Lebens wird der Mensch im tieferen Sinne sehend. Auf dem Hintergrund des Kampfes auf Leben und Tod zeichnet sich ihm das Echte, Schöne, deutlicher ab als im Gewirr des Alltags. Im Bewußtsein der Gefahr und im Angesicht des Todes wird er erst die Fülle und Süßigkeit des Lebens gewahr und kostet sie - oft schon brechenden Auges – im Innersten seines Fühlens wie nie zuvor. Dieses neue, vertiefte Erlebnis des Wertes und Sinnes seines Lebens stärkt den Menschen, macht ihn gewillt und fähig, es im erbarmungslosen Kampf der Gewalten bis zum Letzten zu verteidigen, einzusetzen und auch zu opfern für den höheren Zweck der Gemeinschaft, in dem das Einzeldasein erst Berechtigung und Weihe erhält. In diesem äußersten Einsatz des Lebens - ob im Kampf von Mann gegen Mann, oh im Kampf gegen Gefahr zu Lande, zu Wasser oder in der Luft, gegen Wunden oder Krankheit - mannhaft stark zu bleiben noch im letzten Atemzuge: darauf will unsere ganze soldatische Erziehung vorbereiten; und dazu leistet auch die Musikpflege in der Wehrmacht ihren Beitrag. 

 

In diesem Gedanken stellt die Wehrmacht die Pflege des Soldaten­liedes an erste Stelle. Das Lied ist zu allen Zeiten „der gute Kamerad“ des deutschen Soldaten gewesen. In all den Einsamkeiten auf verlasse­nem Posten ist es ihm oft der einzige treue Begleiter geblieben, er ihm über schwere Stunden hinweg geholfen hat. Es ist oft gerade das stillste Heimatlied, das wieder stark macht. Auf Marsch und Seefahrt, am Lagerfeuer, in Bunker, Quartier und Kaserne bleibt das Singen der lebendigst Ausdruck der Soldatenkameradschaft. Zur Förderung dieses Singens ist der Truppe in zahlreichen Soldatenliederbüchern das alte und neue Volks- und Soldatenlied, nach den verschiedenartigen Wünschen gesammelt, gesichtet und aufgebaut, vermittelt worden. 

 

Durch den Einsatz vor Singeleitern, die in eigenen Lehrgängen fortlaufend für diese Tätigkeit ausgebildet werden, hat das praktische Singen und das instrumentale Musizieren in den Truppeneinheiten einen Aufschwung wie nie zuvor genommen. Neue Lieder sind in großer Anzahl im Entstehen. Was davon bleibt, wird erst ein spätere Zeit entscheiden. Bei vielen liegt der Wert nicht so sehr in der Melodie oder im Wort, als im Gemeinschaftserlebnis einer Waffentat oder Waffengattung: es ist das Lied der Maschinengewehrkompanie, der Panzerjäger, das U-Boot-Lied, das Lied der Jagdflieger, der Fallschirmschützen, auf das jeder nach seiner Zugehörigkeit wie auf seine Waffe stolz ist. 

 

Die Pflege der Marschmusik hat ihren Schwerpunkt bei den Truppenteilen der Ersatzwehrmacht, denn die Zeiten, da man mit klingendem Spiel zum Sturm antrat, sind endgültig vorbei. Die Musikkorps der Fronttruppe sind vielfach mit der Waffe oder als Hilfskrankenträger in oft verlustreichem Einsatz tätig und stehen nur in Ruhezeiten für ihre musikalische Aufgabe zur Verfügung. 

 

Auch der konzertanten Blasmusik bringt die Wehrmacht erhöhtes Interesse entgegen. Durch Wettbewerbe und Aufträge fördert sie die Komposition originaler Blasmusik. Besonderen Anreiz bietet hierbei offenbar das erweiterte lnstrumentarium der Luftwaffenmusik (Einführung des Saxophons, hoher und tiefer Klarinetten und Posaunen).

 

Im Zusammenwirken von Soldatenchören und Blasorchester formt sich ein neuer Stil der Feiergestaltung. Die Chöre der Singeleiter der Wehrmacht haben sich hierfür in zahlreichen Veranstaltungen in den besetzten Gebieten eingesetzt. Hier sei auch die Betätigung der Musikkorps der Wehrmacht und der Waffen-SS zur Betreuung der Lazarette, der Rüstungsbetriebe und im Rahmen des Winterhilfswerkes erwähnt.

 

Bei den Veranstaltungen der Truppenbetreuung im Kriegs- und Heimatgebiet ist der Musik ein großer Raum gewährt. Sänger und Instrumentalisten, Kammermusikvereinigungen Orchester und Opernbühnen des Reiches (im Auftrag des Oberkommandos der Wehrmacht durch "Kraft durch Freude" eingesetzt) vermitteln - keine Anstren­gung und Gefahr scheuend - unseren Soldaten von Murmansk bis Afrika, von der Atlantikküste bis tief in den Osten, in Stunden der Entspannung und der Sammlung den ganzen Reichtum der Musik. Entscheidend sind hier nicht die klingenden Namen der ausführenden Künstler, die sich erfreulich zahlreich in den Dienst der Sache stellen, entscheidend ist allein das kulturelle Gesamtergebnis: Unzählige deutsche Soldaten aus allen Berufs- und Bildungsschichten gewinnen auf diese Weise eine erstmalige oder eine neue Beziehung zu dem edelsten Kulturgut der Musik. Der Kontakt zwischen Hörer und Künstler ist fern der Heimat enger, namentlich wenn ein verbindendes Wort die Brücke zum Kunstwerk schlägt. Im behelfsmäßig hergerichteten Raum, auf entlegener Insel oder an Bord eines Schiffes lauscht man gesammelter als im konventionellen Konzertsaal.

 

Aus dem vertiefenden Erlebnis des Kampfes, in dem er als mitvera­ntwortliches Glied wirkt, empfindet gerade der einfache" unverbildete Mann ohne viele Worte, daß auch die Musik unserer großen Meister aus einem Ringen mit dem Schicksal hervorgegangen ist, selbst da, wo sie lächelnd und unbeschwert scheint [1]. Der Zucht, Lebendigkeit und Klarheit etwa der Brandenburgischen Konzerte Bachs fühlt er sich innerlich zugehörig, da er aus ihnen den soldatischen Geist des großen Königs in gleicher Weise hört, wie er ihn im eigenen militärischen Tageswerk ständig erlebt. Er ist aufgeschlossen für das Werk Beethovens, da er in ihm den Mann ahnt, der „dem Schicksal in den Rachen greift“, so wie es von ihm selbst täglich gefordert wird; denn er spürt an sich selber: "Dem Mann muß Musik Feuer aus dem Geiste schlagen!" (Beethoven). Staunend und beglückt nimmt er die ewig jungen Melodien Mozarts auf, vielleicht erstmals ahnend, daß „das zwecklos Schöne" die höchste Stufe aller Kunst ist und daß „die Unergründlichkeit im Lächeln sich verbirgt". 

 

Daß auch die leichte Unterhaltungsmusik zur Erheiterung und zum Ausspannen genügend zu Worte kommt, sei nicht vergessen. In dieser Richtung bewegen sich die vielseitigen Bemühungen des Reichsrundfunks. Mit zahlreichen Sonderprogrammen vom Heiteren bis zum Ernsten erfüllt er dem Soldaten alle nur denkbaren Wünsche und dient so mittelbar der Musikpflege in der Wehrmacht. In seinen zündenden Kampfliedern, die zu den Sondermeldungen wie der Schlachtruf des ganzen Volkes erklingen, hat gerade der Rundfunk die Musik wie nie zuvor in eine unmittelbare Beziehung zu den Kampfereignissen der Front gebracht. 

 

Schließlich sei noch der reichen Schallplattenspenden gedacht, die dem Soldaten Musik zu jeder Zeit und nach eigener Wahl ermöglichen. 

 

Wie Deutschland das am meisten musikliebende und musikschöpfrische Land der Erde genannt werden muß, so nimmt auch in seiner Wehrmacht die Liebe zur Musik und ihre Pflege einen Platz ein, wie ihn andere Völker nicht kennen. Der deutsche Soldat weiß, daß er mit seinem Lebenseinsatz nicht nur für die Erhaltung seines Vaterlandes, sondern auch für den Bestand der deutschen Musik eintritt. 

 

[1] So lautet Michelangelos Inschrift unter einer Skulptur: "und niemand weiß, wieviel es Blut gekostet!“

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Bibliographische Angaben: HASE, Hellmuth von (Hg.): JAHRBUCH DER DEUTSCHEN MUSIK 1943 - Im Auftrag der Abteilung Musik des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda - 211 Seiten, OPbd, gebunden, Gebundene Ausgabe, Verlag: Leipzig-Berlin, Breitkopf und Härtel-Max Hesses, 1943 (1943), ASIN: B0036BIO4O, Seiten 55-58

 

Anmerkungen der Abschreiberin (Oktober 2014): In dieser Abschrift wurde die Original-Rechtschreibung beibehalten. Alle g e s p e r r t gedruckten Wörter wurden als fett gedruckte Wörter wiedergegeben. Das Wort „musikschöpfrische“ steht im Originaltext genau in dieser Schreibweise. Im Wort „Waffen-SS“ haben im Originaltext die beiden S eine gezackte Form, ähnlich wie stilisierte Blitze.